07/11/2025

Der Engel der Geschichte blickt nicht zurück – er wird übersehen Zur Ausstellung „Der Engel der Geschichte“ im Bode-Museum Berlin

Bis Mitte Juli zeigte das Bode-Museum in Berlin die Ausstellung „Der Engel der Geschichte – Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel 80 Jahre nach Kriegsende“. Sie widmete sich der Wirkungsgeschichte des Philosophen Walter Benjamin und seiner berühmten Interpretation von Paul Klees Angelus Novus.

Benjamin sah in diesem Engel eine Figur, die von einem Sturm, dem sogenannten Fortschritt, in die Zukunft getrieben wird. Der Blick des Engels aber ist zurückgewandt – auf Trümmer, auf Katastrophen, auf eine Geschichte des ununterbrochenen Leids. Er will innehalten, heilen, verstehen. Doch der Sturm treibt ihn weiter – unaufhaltsam.

Benjamins Vision bleibt beklemmend aktuell. Der Fortschritt – technologisch, ökonomisch, geopolitisch – zieht weiter, während sich neue Trümmerberge auftürmen. Dass es so weitergeht, ist selbst die Katastrophe. Während Europa und die USA sich nach außen aufrüsten, werden im Inneren Errungenschaften der Aufklärung leise abgewickelt: Migrationsgesetze, Abschiebeoffensiven, die systematische Jagd auf „Illegale“. Der kurze Frühling der Menschenrechte im sogenannten Westen, der nie ein echter war, verwandelt sich in einen autoritären Herbst.

Doch genau dieser Gegenwartsbezug fehlt in der Ausstellung. Statt Benjamin in die Jetztzeit zu holen, wird er als historisches Artefakt inszeniert – eingerahmt von weiteren „Engeln“ und musealer Distanz. Dabei war sein Denken durch und durch von der Erfahrung des Faschismus und der Verfolgung geprägt. Als linker Jude auf der Flucht beging Benjamin 1940 Suizid, um der Auslieferung an die Nazis zu entgehen.

Wo würde der Engel der Geschichte heute hinschauen?
Nach Syrien. Nach Bachmut. Nach Gaza. Nach Haiti.
An Orte, die im westlichen Diskurs keine Rolle mehr spielen – hoffnungslos, zerstört, vergessen.

Warum die Ausstellung diese Realität ausblendet, lässt ratlos zurück. Vielleicht ist ein Museum, das auf das Vergangene spezialisiert ist, nicht der richtige Ort für eine solche Kuratierung. Vielleicht aber ist es auch ein Symptom: Die Leerstelle der Gegenwart – und das Schweigen der Kunst – ist selbst Ausdruck der Barbarei.

Es bleibt eine Hoffnung: dass mutige Künstler*innen diese Leerstelle füllen.
Denn, wie Walter Benjamin schrieb:
„Nur um der Hoffnungslosen ist uns die Hoffnung gegeben.“

Admin - 17:06 | Kommentar hinzufügen

 

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