12/10/2022

Antisemitismus in Hagen – eine unvollständige Chronik

Die Nacht vom 15. Auf den 16.09.2021, der Beginn von Yom Kippur, in Hagen: Schwer bewaffnete Polizist*innen bewachen und durchsuchen die Hagener Synagoge und ihre Umgebung nach Sprengstoff. Grund war laut den ermittelnden Behörden, eine konkrete Anschlags-Bedrohung.  Der Tatverdächtige ist ein 16-Jähriger aus Syrien, der Kontakte zum sogenannten IS haben soll. Im Laufe der Ermittlungen verhärtete sich der Verdacht, wenn auch die konkreten Planungen bisher nicht öffentlich gemacht wurden. Festzuhalten bleibt jedoch, eine derartig bedrohliche Situation für jüdisches Leben in Hagen hat es seit 1945 nicht mehr gegeben. Mitnichten handelt es sich hier jedoch um die erste und einzige öffentliche Bedrohung jüdischen Lebens in Hagen.
 
2003 demonstrierten Neonazis in Hagen gegen den Besuch von Paul Spiegel, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrat der Juden in Deutschland. Nur 200 Meter entfernt, konnten diese ihrem Antisemitismus („Juden raus – aus Palästina“ lautete eine ihrer Parolen) unter dem Schutz der Polizei lautstark Ausdruck verleihen. Skandalträchtig auch der Name der Kundgebung: „Der Tod ist ein Meister aus Israel“, ist eine direkte Anspielung auf das Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan, in dem dieser die Hölle von Auschwitz beschreibt und in dem es eben „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ heißt.
„Unter solchen Vorzeichen habe ich noch nie eine Lesung halten müssen,« sagte Paul Spiegel am Dienstag voriger Woche zu Beginn einer Veranstaltung in Hagen, zu der ihn das dortige Stadtmuseum eingeladen hatte. Es sei „bedrückend“, erklärte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, „wenn man am Tag zuvor erfahre, dass einen so etwas erwarte“. (1)
Große Solidaritätsbekundungen seitens der Hagener Zivilgesellschaft blieben aus. Lediglich 120 Personen demonstrierten in großem Abstand zur Nazi-Demo.

Warum eigentlich Israel?

2015 eskaliert einmal mehr der sogenannte Nahost-Konflikt. In Deutschland kommt es im Zuge dessen zu antiisraelischen Demonstrationen, auch in Hagen. Knapp 500 Menschen ziehen durch die Hagener Innenstadt und skandieren u.a. „Kindermörder Israel“, eine antisemitische Parole. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt über diese Parole: „Der gegen Israel gerichtete “Kindermörder”-Vorwurf beispielsweise greift die antisemitischen “Ritualmord”-Unterstellungen wieder auf.“ (2)

Warum dieser Fokus auf Israel? „Heute ist es für Antisemiten fast unmöglich, sich in direkter und offener Form straffrei judenfeindlich zu äußern (vgl. § 130 StGB). Judenfeindschaft lässt sich aber über Umwege gegen Israel fortführen, indem dieser Staat in der antisemitischen Vorstellungswelt als “Kollektivjude” gesehen wird. Dies kann man an der Kontinuität einschlägiger Stereotype veranschaulichen, in denen bekannte antisemitische Aussagen auf den jüdischen Staat übertragen werden“ (3)
Der Skandal: Die Hagener Polizei leiht der Demonstration ihr Megaphon, durch welches ungehindert antiisraelische Parolen gerufen werden.

In den darauffolgenden Jahren kommt es immer wieder zu kleineren Kundgebungen gegen Israel, meist angemeldet durch ein Mitglied der Altenhagener SPD. Auf diesen wird in kontinuierlicher Manier Israel und seine Politik, mit dem deutschen Nationalsozialismus verglichen und gleichgesetzt. Auf Flugblättern wird moniert „Ein Volk dessen Vorfahren den Holocaust erlebt haben, hat aus der Geschichte nichts gelernt“ oder die Behauptung aufgestellt, es gibt einen „NS-ähnlichen“ Völkermord an den Palästinensern, durchgeführt durch Israel.
Ungestört und unwidersprochen, konnten kleine Gruppen über Wochen Kundgebungen mit massivem antisemitischem Inhalt am Hagener Friedenszeichen in der Innenstadt abhalten.

„Zu Verschwörungstheorien gehören Vernichtungsphantasien“
(Antilopen Gang – Beate Zschäpe hört U2)

2018 demonstrierten 1000 Menschen in der Hagener Innenstadt für „Jerusalem den Palästinensern“. Verantwortlich zeigte sich ebenfalls ein  Mitglied der Hagener SPD. Auch hier kam es zu „Kindermörder Israel“-Parolen, sowie Solidaritätsbekundungen mit der antisemitischen Hisbollah. Zudem wurden der sogenannte „Wolfsgruß“ der antisemitischen türkischen Graue Wölfe in Richtung der kleinen Gruppe von „Pro-Israel“-Demonstranten gezeigt. Neben den knapp 30 Gegendemonstrierenden an der direkten Aufzugsstrecke der antiisraelischen Veranstaltung, versammelten sich 40 Menschen zu einer Mahnwache vor der Hagener Synagoge. Größere Solidaritätsbekundungen der Zivilgesellschaft fanden auch hier nicht statt.

Im Herbst 2019 finden im Abstand weniger Wochen zwei Veranstaltungen von durch antisemitischen Aussagen aufgefallener Künstler statt. Im Oktober sollte der Schlagersänger Christian Anders („Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“) eine Autogrammstunde abhalten. Anders ist seit Jahren als Verschwörungstheoretiker und Antisemit aufgefallen.

Im November gestaltet ein Hagener Künstler das sogenannte „Kunstschaufenster“ in der Volmegalerie. Auffällig erkennbar kontextualisiert er Symbole des Judentums mit aus dem Nationalsozialismus bekannten (u.a. die Swatiska, das Hakenkreuz). Zudem äußert er sich massiv antisemitisch im Internet, bezeichnet die Shoa als „energetische Gleichmachung seitens unseres Volkes“, es seien ja schließlich auch Deutsche gestorben und leugnet die Existenz von Ghettos und KZ´s.
Beide Veranstaltungen werden nach öffentlichen Interventionen des „Arbeitskreis Antifaschismus“ abgesagt.

Im Juni 2019 kommt es in Hohenlimburg zu Schmierereien in der Innenstadt. Auf verschiedenste Schaufenster wird „Jude“ geschrieben. Auch wenn die Täter*innen nicht bekannt sind, scheint hier ein antisemitischer Hintergrund wahrscheinlich.

Wer von Antisemitismus in Hagen spricht, kann von der AFD nicht schweigen

Auch die AFD-Hagen, die sich gern als pro-jüdisch inszeniert, hat scheinbar ein massives Problem mit Antisemitismus in ihren Reihen. Laut einer gut dokumentierten Recherche der örtlichen Antifa, kommt es dort immer wieder zu antisemitischen Äußerungen (4). Vor allem durch verschiedenste, ehemalige stellvertretende Vorsitzende, die in ihrer aktiven Zeit Sympathisanten der extrem Rechten oder antisemitischen Identitären Bewegung waren sowie vor vermeintlichen „Zions“ (Chiffre und meint Jude. Ableitung von Zionist) im Kanzleramt warnten. Auch auf die antisemitische Verschwörungstheorie, es gäbe eine geheime Macht, die durch Migration für einen Bevölkerungsaustausch in Deutschland und Europa sorge, auch bekannt als „der große Austausch“, können sich weite Teile der Hagener AFD einigen.

Die Querdenker-Bewegung sorgte für ein erstarken von Antisemitismus in ganz Deutschland. Einer ihrer Aktivposten findet sich in Hagen: Michael Schele. Dieser machte bundesweit Schlagzeilen, auch durch direkte Angriffe auf Gegendemonstrierende. Dieser Bewegung zuordnen möchte sich wahrscheinlich auch der diesjährige AFD-Kandidat für ein Hagener Bundestagsmandat, Andreas Geitz. Auf seinem Facebook-Profil relativiert er in wiederkehrenden Abständen die Shoa und den NS. Durch Äußerungen wie „Impfen macht frei“ (strafbar!), “Ach komm, die Maske ist doch nur ein Stück Stoff“, “War der Judenstern auch“ und Hitler-Merkel vergleichen, verharmlost er in zum Teil eventuell strafbarer Art und Weise den Holocaust.

Mai 2021: Die Stadt Hagen feiert die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel im Jahre 1965 und hisst anlässlich dessen die israelische Flagge. Es kommt zum Eklat: Laut Stadt Hagen forderte die Polizei Hagen, die Flagge wieder abzuhängen. Grund seien mögliche (antisemitische) Eskalationen wie in Gelsenkirchen oder Berlin zu der gleichen Zeit. Die Polizei widerspricht der Darstellung, es habe lediglich einen Hinweis gegeben, es könnte zu Unmut führen, die israelische Flagge zu hissen. Resultat blieb, das die Flagge eben nicht blieb, der Skandal macht deutschlandweit Schlagzeilen. Als Reaktion demonstrierte ein einzelner Mann mit der israelischen Flagge vor dem Rathaus gegen diesen Vorfall. Dieser berichtet, mehrfach angegriffen worden zu sein. Auch hätte die Polizei ihn nicht geschützt, sondern weggeschickt. (5)

Die Liste der Vorfälle ist lang. Sie wäre vermutlich um einiges länger, würden Hagener Jüdinnen und Juden ihre Erlebnisse schildern. Die unvollständige Liste zeigt aber auch, Antisemitismus kommt in Hagen von vielen Seiten. Er trifft auf ein Klima der Ignoranz. Zu häufig wird geschwiegen, wenn es zu Bedrohungslagen kommt. Das Einknicken des OB im Mai im „Flaggen-Eklat“ ist hierfür exemplarisch. Für die Gesellschaft der Vielen, die Hagen zwangsläufig ist, fehlt der Aufbruch, fehlt die Solidarität, gerade von vielen Gruppen der Hagener Zivilgesellschaft, aber auch von Seiten der Politik.

Ein positives Signal wiederum, können die wirklich gelungene Gedenkwochen zur Reichspogromnacht sein „AUS DEM DUNKELN EIN LICHT: מֵאֹפֶל אוֹר. Diese wurde von der jüdischen Gemeinde Hagen, dem Jugendtheater Lutz, dem Jugendring und dem Musicoffice Hagen organisiert und verbinden das Gedenken an die Reichpogromnacht mit aktuellem, 2021 Beispielsweise mit dem dem Erinnern an 1700 jüdisches Leben in Deutschland.

 

(1) Zitiert aus https://jungle.world/artikel/2003/24/neue-deutsche-lyrik
(2) https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307746/antizionistischer-und-israelfeindlicher-antisemitismus
(3) https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307746/antizionistischer-und-israelfeindlicher-antisemitismus
(4) http://akantifahagen.blogsport.eu/2020/09/22/kein-kuschelkurs-mit-den-rechten/
(5) Eine Ausführliche Darstellung findet sich unter https://www.welt.de/regionales/nrw/article231497399/Hagen-Mann-mit-Israel-Flagge-vor-dem-Rathaus-vertrieben.html

Admin - 16:49 | Kommentar hinzufügen

Kommentar hinzufügen

Die Felder Name und Kommentar sind Pflichtfelder.

Um automatisierten Spam zu reduzieren, ist diese Funktion mit einem Captcha geschützt.

Dazu müssen Inhalte des Drittanbieters Google geladen und Cookies gespeichert werden.


 

Letter & Lametta
Kultur, Kritik und Politik